Leseprobe "Libellenfrühling"
Libellenfrühling
1
Ihrem Blick nach zu urteilen,
war Mama entweder der Überzeugung, ich sei ein verwaistes Straßenkind, oder gar
ein ausgereiftes Sumpfmonster. Ich kam vom Garten her, war den kleinen Abhang
hinterm Haus hinaufgelaufen, während der Regen unaufhörlich auf alles
niederprasselte: das gemähte Gras, die roten Hortensien im Rindenmulch und die Farne
in den Terrakottatöpfen; und auf mich, der es nicht für nötig gehalten hatte,
eine Regenjacke oder wenigstens einen Schirm mitzunehmen. Mit dreckigen Händen
drückte ich die Terrassentür auf, um in die Küche zu stolpern, wobei ich einen
verschmierten Handabdruck auf der Glasscheibe hinterließ. Der Duft
frischgebackenen Brotes wehte mir entgegen und ließ mir bewusstwerden, wie sehr
mein Bauch vor Hunger schmerzte.
„Stehen
geblieben, mein Langer“, sagte Mama, die an der Spüle stand und die blau
glasierte Kaffeetasse abtrocknete, die ich im Werkunterricht getöpfert und ihr
zum Muttertag geschenkt hatte. Wie ein Glockenspiel klimperten ihre drei
Armreife im Rhythmus der Bewegung. Sie benutzte dieses hässliche Küchentuch,
das mit grünen und orangefarbenen Streifen kariert war, und bestickt mit
kleinen Karotten dazwischen. Sie liebte es.
„Wie oft
muss ich dir eigentlich noch sagen, du sollst dir die Schuhe vor der Tür
ausziehen?“
Der
Matsch lief von meinen Stiefeln auf die Fliesen und bildete einen feinen Rand,
als brächte mich die warme Luft, die vom Ofen her strömte, zum Schmelzen wie
eine Schokoladenfigur in der Sonne. Hannes, Manuel und ich waren vom Regen
überrascht worden, während wir unsere Walnussschiffchen im Bach um die Wette
segeln ließen. Es war ganz einfach: eine Walnussschale, ein wenig Kerzenwachs
und einen von diesen Zahnstochern mit Nationalflaggen, und fertig war das
Schlachtschiff.
„Ach,
Mensch. Julien,“ seufzte sie, während sie mit dem Karottentuch auf mich zukam.
Sie wischte mir die durchnässten Locken aus dem Gesicht und rubbelte meinen
Kopf so hart, dass es wehtat. Ich duckte mich nach unten und begann meine Hose
hochzukrempeln.
„Meine
Galeonen haben das Rennen gewonnen“, sagte ich. Weder Hannes britische Flotte
noch Manuels italienische Marine hatte eine Chance gegen meine Seemacht aus dem
Norden gehabt. Die blau-gelben Fähnchen der Schweden waren davongezogen wie
getrieben vom Geist der Wikinger.
„Und dann
hast du dich zur Belohnung im Schlamm gewälzt wie ein glückliches Schweinchen,
ja?“
„Hannes
hat mich geschubst. Er meint, ich hätte geschummelt.“ Mama schaute an mir herab
und lächelte, und während sie lächelte, blies sie ihren Atem durch die Nase
aus. Das Gras und der Matsch des Bachufers hatten ihre Farben auf meine Jeans
gemalt und ließen sie aussehen wie die Hose eines Soldaten. So eine, wie Papa
sie trug, wenn er zur Arbeit ging.
„Komm und
wasch dir erstmal die Pfoten, mein kleiner Kapitän.“
Ich
stellte meine Stiefel auf die Fußmatte aus rostigem Metall und Kokosfaser, die
vor der Terrassentür lag wie ein altersschwacher Wachhund. Dann hüpfte ich zur
Spüle, wo Mama den Wasserhahn für mich aufdrehte. Vor einem Monat hatten meine
Eltern die komplette Küche renovieren lassen. Alles kam raus und wurde durch
etwas Modernes, Besseres ersetzt. Schlicht, aber schön soll es sein, hatte Mama
gesagt, als sie mit Papa durch die Kataloge blätterte. Die modische Küchenzeile
mit einer Anrichte aus hellem Marmor, Schranktüren und Schubladen aus schwarz
lackierten Edelhölzern, wurde zum Herzstück der neuen Küche. Alles Metallische
glänzte im matten Silber des Edelstahls: die Spüle samt Designerarmatur, die
Verkleidung des Ofens und der Kühlschrank, an dem keine Magneten mehr erlaubt
waren. Die passen nicht mehr ins Bild, sagte Mama. Deshalb landeten die alten
Tiere, Buchstaben und Souvenirs von Urlaubsreisen in einem Schuhkarton, der nun
auf dem Dachboden verstaubte. Die alte Küche hatte mir genauso gut gefallen und
ich fand keinen besonderen Reiz darin, dass nun alles aussah wie das Innere
eines Raumschiffs, so steril und kalt. Aber es war nun mal, was es war, und was
es war, war mir im Prinzip egal.
Ich ließ
das heiße Wasser über meine Finger rauschen, ließ es sie wärmen und den Schlamm
aufweichen, der auf meiner Haut angetrocknet war, bevor ich einen Klecks der
türkisfarbenen Flüssigseife nahm und ihn verrieb, bis es schäumte. Mit der
rechten Hand schrubbte ich über meine linke, fuhr mit den Fingerkuppen über die
Narben und die Furchen und Krater, die sie beschrieben. Ich erinnerte mich nur
noch schwach an den Tag, an dem sie sich in meine Haut einbrannten - die wohl
früheste meiner Erinnerungen. Mama bezeichnete es als den schrecklichsten Tag
ihres Lebens. Diesen verschneiten Tag im Winter, an dem sie mich schreiend vor
dem lodernden Kamin auf der Terrasse fand, mit der Hand voller geschmolzenem
Plastik und sengender Wolle. Es war der Tag, an dem ich lernte, dass Handschuhe
nicht vor Feuer schützten.
Mama
umarmte mich von hinten und meinte, ich solle bloß nicht schon wieder die
Fingernägel vergessen. Sie sagte oft, wenn die Welt irgendwann einmal Dreck als
Zahlungsmittel akzeptiere, bräuchte sie nur unter meinen Fingernägeln zu suchen
und wäre eine reiche Frau. Sie lachte leise und holte wieder ihr Küchentuch
hervor. Dieses Mal waren es meine Hände, die ihren rubbelnden Eifer zu spüren
bekamen.
„So, und
jetzt geh und zieh dich um, ja?“
„Mach
ich.“
„Und
bring deine dreckige Wäsche runter in den Keller.“
„Ja.“
„Ach, und
bist du so lieb und sagst Mia Bescheid, dass es in fünfzehn Minuten Abendbrot
gibt?“
„Okay.“
Und ich
rannte los, schoss um zwei Ecken, wobei ich die Wände abklatschte, als hielten
sie mir die Hand hin für ein Gib-Mir-Fünf. Mama rief meinen Namen und da fiel
mir ein, was ich jedes Mal vergaß: Sie hasste es. Wegen der Fettflecken auf dem
Rauputz, die man nicht mehr wegbekam, wenn sie erst einmal da waren.
Mit zwei
Stufen pro Schritt erklomm ich die Treppe ins Obergeschoss. Nachdem ich mir
eine Jogginghose und ein trockenes T-Shirt angezogen hatte, schlurfte ich
hinüber zu Mias Zimmer, das meinem gegenüberlag. Verzerrte Gitarren, gequältes
Geschrei und Getrommel wie ein Gewitter strömten in rhythmischem Einklang durch
den Türspalt. Ich klopfte zweimal. Dann noch einmal. Sie hörte mich nicht, wie
auch? Vorsichtig drückte ich die Klinke nach unten und schob die Tür, an der
ein Poster mit den grimmigen Gesichtern ihrer Lieblingsband hing, ein Stück
nach innen. Nur so weit, bis ich meinen Kopf hineinstecken konnte. Kein Wunder,
dass sie mich nicht wahrnahm. Sie war vertieft in eins ihrer Skateboard Magazine,
bäuchlings auf dem Bett, die Beine angewinkelt. Ihre Füße tappten zum Rhythmus
der Musik in der Luft. Strähnen des roten Haars streichelten über die
Glanzseiten des Magazins, als sie umblätterte.
„Hey,
Mia.“ Ich schob mich durch den Türspalt.
Sie drehte
ihren Kopf erschrocken nach mir um, und schlug das Magazin zu. Dann lächelte
sie, und während sie sich aufsetzte, schob sie ihr Haar hinter die Ohren und
legte den Blick frei auf die Hundertschaft an Sommersprossen, die auf ihren
Wangen stationiert war. Mit der Fernbedienung ihrer Stereoanlage senkte sie die
Lautstärke, sodass ich nicht mehr das Gefühl hatte, die Musik versuche mir den
Dreck aus den Ohren zu hämmern.
„Julien“,
sang sie meinen Namen, als stamme er aus einer Waschmittelwerbung. „Komm, setz
dich zu mir.“
„Mama hat
frisches Brot gebacken“, sagte ich und bahnte mir einen Weg durch Socken,
Schulhefte, ein Paar Farbstifte, löchrige Jeanshosen und zwei Nummern zu große
Strickpullover, die auf dem Boden verteilt lagen, bevor ich neben ihr Platz nahm.
„Alles
gut bei dir?“, fragte sie. „Ich wollte sowieso noch was mit dir bereden. Nur
wir zwei.“
„Hast du
an meinen Kompass gedacht?“
„Den hat
Melissa noch.“
„Ist eure
Projektwoche nicht vorbei?“
„Doch,
schon. Ich werde sie am Montag daran erinnern. Ist doch auch egal“, sagte sie.
„Was ich dich nämlich eigentlich fragen wollte …“
„Ich
bräuchte den Kompass schon sehr bald wieder.“
„Ja, ja.
Ich werde dran denken. Aber jetzt hör mir doch mal kurz zu. Du kennst doch
Robert, oder?“
„Der
aussieht, als verprügelt er Hunde?“
„Nein,
was? Der ist doch total süß. Du musst ihn nur mal richtig kennenlernen.“
„Kein
Bedarf.“
Sie
neigte den Kopf zur Seite und wickelte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger.
„Pass
auf. Der Robert hat ein Buch, frag mich nicht woher, aber damit kann man
Geister beschwören. Wahnsinn, oder?“
Ich blieb
still, sie fuhr fort: „Wir gehen heute Nacht. Draußen im Wald, hinter dem alten
Kirchturm. Veronika ist auch dabei.“
Ich
zuckte mit den Schultern. „Und was soll ich jetzt machen?“
Mia
erklärte, dass sie um elf Uhr los wollten. Meinte, Mama und Papa wären dann
noch wach, beschäftigt mit ihren Krimis oder etwas ganz anderem. Ich solle sie
ablenken, damit sie nicht im falschen Moment aus dem Schlafzimmer kämen. Ihnen
irgendeine Geschichte erzählen, dass ich nicht schlafen könne, oder schlecht
geträumt hätte. Dass ich um diese Uhrzeit selbst schlafen wollte, daran hatte
sie nicht gedacht. Es war ihr egal. Ich solle einfach wach bleiben, sagte sie
und zeigte mir die Friedhofskerzen, die sie in ihren Rucksack gepackt hatte.
„Die
brauchen wir fürs Ritual, meint Robert.“
„Ihr
glaubt doch nicht wirklich daran?“
„Musst du
gerade sagen, wo du fest davon überzeugt warst, die Katze von den Meyers sei
vom Teufel besessen.“
„Da war
ich sechs!“
„Ach,
dann ist es halt nur Hokuspokus. Wen kümmert’s schon? Robert geht, also gehe
ich auch“, sagte sie, bevor sie sich zurücklehnte und aufs Bett fallen ließ.
„Ich weiß
nicht, Mia. Wenn Mama das rauskriegt, bekommen wir Hausarrest.“
„Weißt du
noch, wie du vor ein paar Wochen ihre Vase zerdeppert hast, als du durch den
Flur gerannt bist?“ Sie kuschelte sich in ihre Bettdecke, ich seufzte.
„Und du
weißt sicher noch, was dann passiert ist“, sagte sie.
„Du hast
ihr erzählt, es wäre deine Schuld gewesen. Weil du wusstest, dass sie dir nicht
böse sein würde. Weil du erkältet warst.“
„Gern
geschehen, übrigens.“
„Ich weiß
nicht, Mia.“
„Komm
schon, Juli, ich dachte, ich könnte mich auf meinen kleinen Bruder verlassen.“
„Und was
ist, wenn dir was passiert?“
„Sei
nicht immer so ein Baby, Julien. Schließlich habe ich Robert, der auf mich
aufpasst.“
Ich
bemerkte, dass ich angefangen hatte, an meinen Fingernägeln zu kauen.
„Komm
schon“, sagte sie, „dann sind wir quitt.“
„Na gut.“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich mach’s.“ Sie würde es ja so oder so versuchen.
Mit einem
Ruck setzte sie sich wieder auf und umarmte mich fest. Sie ließ mich gar nicht
mehr los. „Vielleicht“, sagte sie, „nehme ich dich das nächste Mal mit.“
„Nein.
Danke.“ Der Dreck meiner angekauten Fingernägel lag mir auf der Zunge und
knirschte zwischen den Zähnen. Ich wollte spucken.
„Sei
vorsichtig Mia, ja?“
„Du bist
der Beste.“
Wir
gingen gemeinsam in die Küche hinunter und setzten uns zu Papa an den gedeckten
Tisch. Das frischgebackene Brot lag geschnitten in der Holzschale; Räucherschinken,
Emmentaler und hauchdünne Gurkenscheiben auf dem Servierteller mit
Blumenmuster. Die Butter befand sich in einer winzigen Porzellanschale. Mein
Teller war leer, im Gegensatz zu Mias, auf dem eine zerknitterte
Zigarettenpackung stand. Mama brachte eine Glaskaraffe, die mit Orangensaft
gefüllt war, und setzte sich auf ihren Platz am Kopfende. Sie legte eine
Brotscheibe auf ihren Teller und schabte sich eine dünne Butterschicht aufs
Messer.
„Stimmt
etwas nicht, Schatz?“, fragte sie, während sie die Butter auf dem Brot
verschmierte. Sie sah Mia an, die ihren Blick nicht von ihrem Teller losbekam.
„Ich,
also …“, stammelte Mia, „… das sind nicht meine.“
„Dann
erklär uns mal, wie eine angebrochene Zigarettenpackung in deine Jackentasche
kommt.“
„Aber das
sind wirklich nicht meine“, protestierte Mia und vergaß für einen Moment ihren
Mund zu schließen. „Die gehören Robert, der raucht halt.“
„Mia, wir
sind nicht bescheuert.“
„Aber es
stimmt. Ich sollte sie für ihn halten, und hab vergessen, sie ihm wiederzugeben.“
„Soll ich
Roberts Mutter anrufen und sie danach fragen?“
Mia ließ
sich Zeit mit einer Antwort. Sie begann, an der Zigarettenpackung
herumzuspielen, zog die Plastikfolie ab und zerknüllte sie.
„Nein“,
sagte sie so leise, dass sie beinahe von der knisternden Folie übertönt wurde -
ein Knistern, das klang wie Zähneknirschen. „Es sind meine“, sagte sie, bevor
sie schrie: „Okay? Ja, es sind meine, seid ihr jetzt zufrieden?“
„Du hast
zwei Wochen Hausarrest.“
„Das
könnt ihr nicht machen.“
„Und wie
wir das können, Fräulein“, sagte Papa mit seiner rasiermesserscharfen Stimme,
die den ganzen Abend ungehört geblieben war.
Mia nahm
die Packung vom Teller und schmiss sie Mama ins Gesicht, die ihre Hände zum
Schutz nach oben riss. Dann sprang Mia auf und stapfte aus der Küche. Ein
letztes Mal drehte sie sich um, eine Tränenspur auf ihrer Wange.
„Ich
hasse euch!“
Später lag ich im Bett und wartete, während sich draußen dunkle Wolken vor den sichelförmigen Mond schoben. Ich starrte aus dem Fenster in der Dachschräge über mir und schaute den Sternen beim Verschwinden zu. Dann hob ich den linken Arm und beobachtete, wie sich die leuchtenden Zeiger meiner Armbanduhr langsam um den Mittelpunkt bewegten. Ich hörte Türen auf und wieder zu gehen, das Rauschen der Toilettenspülung und das leise Schlurfen von Papas Pantoffeln auf dem Teppichboden im Flur. Ob Mia ihren Plan wohl auf Grund des Hausarrests verworfen hatte? Doch ich hatte ihr mein Wort gegeben und wenn man jemandem sein Wort gab, dann hielt man sich daran. Deshalb wartete ich, doch während ich wartete, vergaß ich, auf die Uhr zu schauen. Und weil ich vergaß, auf die Uhr zu schauen, vergaß ich es, zu warten. Und dann, irgendwann, als vollkommene Stille im Haus eingekehrt war, schlief ich ein.
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